Sonntage haben in meinem Leben immer eine besondere Schwere und zugleich Leichtigkeit gehabt: Eine Art Zeitfenster, in dem die Woche sich legt und etwas anderes an ihre Stelle tritt. In den letzten Jahren hat sich dieses Fenster jedoch mit Geräuschen gefüllt — Benachrichtigungen, Bildschirme, endlose Feeds. Ich habe angefangen, Sonntage ohne soziale Medien bewusst auszuprobieren. Was folgt, ist kein Dogma, sondern eine Einladung: Warum wir sonntags keine sozialen Medien mehr brauchen und wie ein kleines Experiment aussehen könnte.

Weshalb überhaupt ein social-media-freier Sonntag?

Die Gründe sind einfacher, als man glaubt. Zunächst verschiebt Social Media die Aufmerksamkeit ständig von Innen nach Außen. Anstatt die eigene Stimmung zu spüren oder die Nähe zu physischen Menschen zu suchen, schauen wir, wie andere leben. Sonntage sind die seltene Gelegenheit, wieder zu sich zu kommen — und zwar ohne Vergleich und Kommentar.

Dann ist da die Wahrnehmung von Zeit. Auf Plattformen wie Instagram oder TikTok wird Zeit zu einem flimmernden Kontinuum: Kurzclips, Stories, Stories über Stories. Ein Tag, der langsam sein könnte, wird hektisch und fragmentiert. Ein social-media-freier Sonntag dagegen lädt zur Entschleunigung ein — zu langen Spaziergängen, Lesen, Kochen, Nichtstun.

Schließlich ist da die Qualität sozialer Beziehungen. Digitale Kontakte sind oft flüchtig; sie geben uns ein Gefühl von Verbindung, das jedoch leicht bleibt. Ich sehne mich nach Tiefe: Gespräch, Berührung, echte Präsenz. Sonntage ohne soziale Medien ermöglichen genau das.

Wie ich das erste Experiment gemacht habe

Mein erster Versuch war pragmatisch und unromantisch: Ich habe mein Smartphone nicht aus dem Haus genommen. Klingt radikal? War es auch ein bisschen. Ich stellte mir eine einfache Regel: Keine Apps mit sozialen Feeds von Samstag 22 Uhr bis Sonntag 22 Uhr. E-Mails und Nachrichten blieben erlaubt, wenn sie direkt relevant waren. Das Ziel war nicht Askese, sondern Fokus.

Die ersten Stunden waren ungewohnt. Ich griff mehrfach nach dem Telefon, nur um festzustellen, dass ich nichts verpassen würde. Dann trat etwas anderes ein: mehr Raum. Ich kochte ohne Unterbrechung, las das Sonntagsmagazin von Anfang bis Ende, ging spazieren und beobachtete, wie die Stadt sich langsam dehnte. Gespräche mit Freunden dauerten länger — nicht unterbrochen von „Ich poste das gleich“ oder „Hast du gesehen…“

Ein strukturiertes Experiment: Regeln und Variationen

Wenn Sie diesen Versuch machen möchten, können Sie ihn wie ein kleines Forschungsprojekt gestalten. Hier ein möglicher Aufbau:

  • Dauer: Starten Sie mit einem Monat, jeden Sonntag.
  • Regelwerk: Alle sozialen Plattformen (Instagram, Facebook, Twitter/X, TikTok, Snapchat) bleiben inaktuell von 0:00–23:59 am Sonntag. Messaging-Apps für Familien- oder Notfallkommunikation sind ausgenommen.
  • Sichtbarkeit: Deaktivieren Sie Push-Benachrichtigungen, oder noch besser: legen Sie das Handy außer Reichweite.
  • Reflexion: Führen Sie ein kurzes Journal (digital oder auf Papier) am Ende jedes Sonntags: Was ist anders? Welche Momente fühlten sich besser an?
  • Variation: Probieren Sie im zweiten Monat eine „halbe“ Version: Social Media nur abends für eine Stunde — zum Sehen und nicht zum Interagieren.
  • Diese Struktur schafft einen Rahmen, der nicht moralisiert, sondern erforscht. Wer gerne Zahlen mag, kann auch die Screen-Time-Statistik notieren und Veränderungen vergleichen.

    Welche Hindernisse kommen auf?

    Es gibt praktische und psychologische Barrieren. Praktisch: Manche Gruppen organisieren sich über Facebook oder WhatsApp. Wenn ein Familienereignis geplant ist, muss Kommunikation möglich bleiben. Psychologisch: Die Furcht, etwas zu verpassen („FOMO“), ist real. Ich bemerke bei mir selbst einen leicht panischen Reflex — vor allem morgens — als wäre Social Media ein Wetterbericht, ohne den man die Welt nicht betreten darf.

    Ein weiterer Stolperstein ist das Arbeits- und Identitätsverhältnis. Für manche ist Social Media Arbeit, Teil des Berufs oder der Selbstvermarktung. Hier wäre eine differenzierte Regel sinnvoll: keine privaten Feeds, berufliche Kanäle eventuell zeitlich gebündelt pflegen.

    Praktische Alternativen für den freien Sonntag

    Was macht man an einem Sonntag ohne scrollen? Hier einige Ideen, die ich selbst ausprobiert habe und weiterempfehlen würde:

  • Langsames Frühstück: Ohne Handy auf dem Tisch. Zeitung oder Roman statt Newsfeed.
  • Sinnes-Spaziergang: Mit der Aufgabe, drei Dinge zu finden, die man vorher nie bemerkt hat — ein Duft, ein Geräusch, eine Farbe.
  • Analoge Kultur: Ein Museum, eine Ausstellung, ein Flohmarkt. Oft sind kleine lokale Veranstaltungen montags nicht auffindbar, weil man sie nicht online sucht.
  • Lesezeit: Ein Essay, ein Kapitel, ein Gedicht. Ich habe etwa mit Montaigne und den Essays von Alain begonnen — geeignet, um ins Nachdenken zu kommen.
  • Kochen als Ritual: Ein neues Rezept ausprobieren, Brot backen. Das aktive Tun hat etwas beruhigendes, haptisches.
  • Soziale Begegnungen: Ein Telefonat mit einer Freundin, ein Besuch bei den Eltern, gemeinsames Spiel mit Kindern.
  • Welche Effekte habe ich bemerkt?

    Die Resultate waren subtil, aber konsistent. Erstens: mehrachtsame Wahrnehmung. Kleine Details — die Schwere eines Satzes, ein Lächeln — treten deutlicher in den Vordergrund. Zweitens: längere Gespräche. Wenn niemand ständig „nur kurz“ etwas posten will, werden Gespräche nicht unterbrochen; sie entwickeln Tiefe. Drittens: bessere Nachtruhe. Ohne plötzliche visuelle Stimulation vor dem Schlafengehen schläft es sich ruhiger.

    Negatives gab es auch: Kurzfristig empfand ich ein Gefühl von Isolation, als würde eine unsichtbare Community ohne mich weitermachen. Doch dieses Gefühl löste sich schnell auf, weil die reale Welt — überraschend — weiterexistierte und oft reicher war.

    Tipps für den Alltag

    Zum Schluss noch einige pragmatische Hinweise, damit das Experiment gelingt:

  • Planen Sie im Vorhinein Aktivitäten. Langeweile ist der nützlichste Feind — wenn sie konstruktiv benutzt wird.
  • Teilen Sie Ihr Vorhaben mit Freunden oder Familie; Solidarität erleichtert das Durchhalten.
  • Erlauben Sie sich Ausnahmen, aber notieren Sie sie. Warum haben Sie ausgesetzt? War es sinnvoll?
  • Nutzen Sie technische Hilfen: Fokus-Modi, App-Limits, Flugmodus.
  • Und: Seien Sie freundlich zu sich selbst. Es geht nicht um Perfektion, sondern um Erfahrung.
  • Ein Sonntag ohne soziale Medien ist kein Rückzug ins Analoge um der Nostalgie willen. Es ist eine kleine Raumnahme, um die eigene Wahrnehmung zu schärfen und die Beziehungen zu vertiefen, die wirklich zählen. Wer neugierig ist, probiert es — vielleicht beginnt eine langsame Rückeroberung der Zeit.